Fernweh

die Azoren – wandelbares Wunderland

Die ersten Tage auf den Azoren sind ungewöhnlich, für mich vor allem deshalb ungewöhnlich, weil sich bei mir kein echtes Wohlfühlen einstellen will. Ich weiß nicht genau, was los ist, ich weiß zwar, dass ich froh bin angekommen zu sein – unverletzt, ohne große Schäden am Boot und sogar noch nach Plan, aber irgendwas stimmt nicht. Hier oder mit mir…oder beides.

Jetzt, ein halbes Jahr später und nachdem wir nochmal einige Zeit zurück in Deutschland waren, erkenne ich was los war.

Ich habe gefremdelt.
Das ist dafür wohl das schlechteste Wort aber auch das Einzige, was es annähernd beschreibt. Auf See war ich aufgeregt und erschöpft und übermüdet… und dann irgendwann ruhig. So ruhig, dass ich keine Bedenken mehr hatte.  Die ewigen Bedenken, etwas vergessen oder übersehen zu haben, verschwanden einfach mit der Zeit auf dem Meer. Wasser, Wind und Wellen entziehen sich ohnehin unserer Gewalt, und genauso zerschellt an ihnen auch jede Form von Lob oder Kritik. Und so akzeptiert man die Elemente, wie sie sind und…wenn alles gut läuft, akzeptieren die Elemente auch zurück. Man verliert alle Erwartungen und wird frei. Frei im Kopf und ruhig im Herz.

Jetzt an Land ist alles anders, und zwar nicht nur als auf See, sondern auch als an Land zuvor. Es sind nicht nur, mir unbekannte Inseln, es ist auch ein anderes Klima, eine neue Sprache und eine andere Kultur. Klar, Portugal und Spanien trennen keine Welten und es gibt etliche Ähnlichkeiten, doch Spanien ist in all der Zeit zu meiner, zu unserer Komfortzone geworden.
Das Essen, die Menschen und eben auch die Sprache, sind uns ans Herz gewachsen.
Das Alles fehlt mir hier, viel mehr noch, es ärgert mich sogar ein wenig und das ist völlig bizarr.

Die Realität könnte nicht gegensätzlicher sein.
Wir haben zwar erst drei der neun Inseln besucht – Sao Miguel, Santa Maria und Terceira, aber eines ist schon völlig klar:
die Inseln sind unglaublich!
Die Natur strotzt hier nur so vor Energie. Alles was hier existiert, existiert absolut.
Die Pflanzen wachsen hier ganzjährlich ihrem Maximum entsprechend, und das bedeutet nichts Geringeres als Urwald. Dort, wo der Mensch ihm nicht seinen Lebensraum einschränkt, macht der Urwald was er will und das heißt: grün-grün-grün. Überall.
Soweit so nachvollziehbar, denn an Sonne und Regen mangelt es schließlich nicht und, dass die beiden Kontrahenten sich ein Dutzend Mal am Tag abwechseln, schadet zwar Wanderdeutschen aber nicht der Flora.

Die Sonne, der Himmel, die Wolken, die Wellen…all das ist so satt hier. Satt und voller Energie. Selbst die Luft ist feucht und geradezu dick vor lauter Frische, außer man kommt dem Vulkanismus zu nahe, denn dann ist der Schwefelgeruch auch so stark, dass man ihn noch Stunden später schmecken kann.  Vulkanschlote erhitzen die See und das Land, liefern Energie, Entspannung oder Eintopf. Drum herum strahlt die Landschaft in unzähligen Grüntönen, blüht wo sie blühen kann und versorgt die Menschen mit Obst und Gemüse und das Vieh mit Weideland. Ob Milch, ob Käse, ob Wein, ob Ananas es ist alles da, “man muss nur einfach a weng guck“ und als Sonja diesen Satz einmal sagt, wusste ich noch nicht, wie gut er zu den Azoren passt.


Das angepriesene Schwachwindgebiet suchen wir hingegen vergeblich. Im Sommer mag das stimmen, doch im Herbst und Winter pflügen hier die Stürme durch, dass die Kanaren zur selben Zeit zum Schönwetterrevier mutieren. Zu den Wetterwechseln gesellen sich Erdbeben, oft lokal und nur auf Teilen der Inseln zu spüren, dafür aber umso zahlreicher – so wurden allein im letzten Februar mehrere hundert kleinere Erdbeben auf Sao Miguel gemessen. Plattenverschiebungen bewegen die ohnehin so bewegte Azorenwelt und bilden das Fundament für die neun Inseln und ihre mehr als zwei Dutzend Vulkane. Während die östlichsten Inseln Flores und Corvo auf der nordamerikanischen Platte liegen, befinden sich die übrigen Azoreninseln auf der eurasischen Platte und werden nicht nur durch hunderte Seemeilen Atlantikwasser getrennt, sondern entfernen sich auch noch voneinander – 5 Zentimeter jedes Jahr.

Bewegtes Land. Bewegte Menschen.

Die Azoreaner leben in ständigem Wandel, den Elementen und deren Launen ausgesetzt und immer in dem Bewusstsein, dass ein Moment zwar nie lange andauern muss…aber andauern kann. Sie haben sich daran gewöhnt, die stete Veränderung ist Teil ihres Lebens geworden, unmerklich wie das Atmen. Sie wirken als wüssten sie, dass nicht immer die Sonne scheint aber eben auch, dass es nicht immer regnet und womöglich macht sie das frei. Freier und ohne Erwartungen an gute oder schlechte Zeiten. Man merkt ihnen das an…oder…man merkt uns das an? Azoreaner, wir oder alle Menschen? Die Grenzen verschwimmen, sind hier ohnehin nutzlos und so wird klar, worum es geht.

Nicht um Gleichgültigkeit sondern um Akzeptanz.

Kurz bevor wir wieder nach Deutschland und in die Vorweihnachtszeit fliegen, stehen wir auf dem massiven Wellenbrecher im Südwesten des Hafens von Ponta Delgada und beobachten das Erbe des letzten Sturms. Schäumende Wellen, meterhohe Gischt und im halbminütigen Takt das dumpfe Einschlagen der Wellen unter uns. Wenige Stunden später ist der Spuk vorbei, es ist sternenklar und eine der ruhigsten Nächte überhaupt. Wandelbares Wunderland.

Ob wir auf den Azoren sind oder nicht, verändert weder das Land noch die Leute und ist hier nur ein Wandel von vielen. Bei uns aber hinterlassen die Eindrücke Spuren, die tiefer gehen und uns manchmal Zuversicht schenken oder manchmal die Schultern zucken statt hängen lassen.
Hab ich gefremdelt oder nur nicht verstanden? Ich weiß es nicht, vielleicht beides…aber sicher ist, wenn wir wiederkommen, werden Corvo und Flores wieder ein Stück weiter weg sein.

Frohe Festtage an alle oder wie die Azoreaner sagen “Boas Festas“ (port.: Boasch Feschtasch)

Eure Crew