Seemannsgarn

Hochseefieber

Ruhe.

Ruhe vor Nachbarn, News und Smartphones. Das ist mein erster Gedanke, wenn ich gefragt werde, wie denn die letzte Überfahrt war. Neun Tage auf hoher See spiegeln sich vor allem in diesem einen Wort wieder. Ruhe. Wenn Kommunikation stattfindet, dann nur noch im kleinsten Kreis, mit der Crew und mit einem selbst.

Es dauert nicht sehr lange, bis man sich daran gewöhnt hat. Die Synapsen stehen dann nicht mehr unter dem üblichen Dauerfeuer und irgendwann bleibt auch der gewohnte Griff zum Handy aus. Entspannung macht sich breit im Kopf, nur gefolgt von Leere. Nicht die unangenehme Variante, eher die, die Platz schafft für Anderes. Dann beginnt man, der Welt um sich herum zuzuhören, dann beginnt man zu verstehen. Irgendwie.

Hunderte Meilen Wasser in alle Himmelsrichtungen, aber man beginnt Muster und Veränderungen in den Wellen zu sehen. Man lernt zu lesen, ob es alte oder junge Wellen sind, sanfte oder gewaltige und auch ob sie gut oder böse sind, die Launen der See. Oft wird gesagt, dass das Meer Emotionen mit sich nimmt, vor allem die Schlechten und Verzagten. Das Meer nimmt sie mit sich und den Menschen geht es besser, so oder so ähnlich lautet die Theorie.

Dabei ist nicht klar, was das Meer mit den Emotionen anstellt und ob es diese Negativität auswaschen oder irgendwo ablagern kann. Vielleicht schwimmen die entsorgten Emotionen auch obenauf wie weggeworfenes Plastik? Schwer zu sagen, doch im Endeffekt gleichbedeutend, denn der Glaube an die reinigende Wirkung bewirkt schon Linderung. Der maritime Placebo-Effekt.

Dennoch ist das alles Unsinn, wissen aufgeklärte Menschen. Wellen bilden sich durch Wind oder Erdbeben, Wind entsteht durch den Ausgleich von Hoch- und Tiefdruckgebieten und Wolken folgen auf Verdunstung. Physikalisch erklärbar, meteorologisch deutbar und Dank hervorragender Wetter-Apps auch für Laien anwendbar. Ein Segen für die Schifffahrt und ein Beweis für empirische Wissenschaften.

Und doch steckt mehr im Meer als Physik und Chemie, denn was passiert, wenn man weit draußen geräuschlos durch die Nacht gleitet, lässt sich nicht in eine Formel pressen. Es existiert keine Berechnung zur Vorhersage, wann die unsichtbare Nadel den unsichtbaren Ballon um den eigenen Kopf zum Platzen bringt. Man kann es auch nicht erzwingen, so wie wenn man versucht vorsätzlich zu niesen oder zu gähnen. Falls aber ein Geräusch dazu existiert, dann vielleicht ein *Plöpp* oder *Pfff* oder es klingt dabei wie ein Delfin, der bei spiegelglatter See die Wasseroberfläche durchbricht – bevor er prustend ausschnauft. Die Oberflächenspannung kollabiert und produziert einen Laut, wie ein umgedrehtes Schmatzen. Egal ob und wie es klingt, danach ist nichts mehr wie zuvor.

Die Welt wirkt anders, man selbst wirkt anders. Der Blick wandert vom Boot weg in alle Richtungen weil man versucht die Ausmaße zu begreifen. Die eigene Existenz wird immer winziger, während der Raum um einen herum immer endloser wird. Der Nachthimmel verschmilzt mit der See, Sterne leuchten und spiegeln sich und wären da nicht Wellen und deren Schaumkronen, es wäre fast unmöglich zu wissen wo oben und unten ist. Die Milchstraße erscheint wie ein Leuchtbanner, dick und fett, fast aufdringlich. Selbst ohne viel Vorkenntnis erkennt man große und kleine Wagen und das prägnante Sternbild Kassiopeia. Hin und wieder ein Satellit mittendrin, beinahe nicht hell genug um bei dieser Kulisse aufzufallen und Sternschnuppen, so zahlreich, dass man sich ernsthaft Zeit nehmen muss um an ausreichend relevanten Wünschen zu feilen. „dass die Wache jetzt schnell vorbeigeht“ liegt zwar erschreckend nahe, ist aber zugleich erschreckend unnötig.
Die Dekadenz der Wunscheinfalt.

Raumpatrouille Pantera geht nachts auf Erkundungsflug und selten war Schlafmangel schöner als jetzt. Der Himmel, oder auch das obere Schwarz, ist dabei manches Mal so klar, dass Navigieren nach Sternbildern sinnvoller und eleganter ist als mit dem Kompass. Das Wasser, also das untere Schwarz, ist nachts oft ruhiger als tagsüber und die Wellen weicher, fast soft. Pantera ist auf Schleichfahrt, und wenn sich nach einigen Nächten der geistige Horizont irgendwo zwischen Milchstraße und Golfstrom befindet, erscheint alles möglich und plausibel. Stellt man sich dann nur lange genug vor, auf einem großen Marshmallow durch einen Ozean aus Schokolade zu segeln, kann man nur hoffen, dass nicht einer von der Crew nach oben kommt und fragt warum man sich so verrenkt und gegen den Sicherungsgurt ankämpft um eine Hand ins Wasser, also in die Schokolade, zu stecken. Der Geist schwebt weit über dem Boot, über dem Raumschiff, über dem Marshmallow…und das tut gut.

Der Weg zu den realen, stets präsenten Fragen ist einfach zu weit und zu unbequem. Das ständige Hinterfragen nach Gründen, warum Menschen unhöflich, ignorant oder gleich rassistisch sind, bleibt aus. Man will auch nicht mehr wissen, warum der/die Eine den/die Andere(n) im Namen irgendeines Gottes tötet oder Drohnen im Namen des Guten, Krankenhäuser oder Hochzeiten in Schutt und Asche bomben. Man denkt nicht mehr an doppelt eingeschweißten Rucola, schwimmende Hotelkomplexe mit Kussmund am Bug und technisch optimierte Massentierhaltung.

Man vergisst, dass es für uns alle wärmer wird und, dass sich in wenigen Jahren viel verändert hat und sehr wahrscheinlich noch viel mehr verändern wird. Man schaut übers Meer und spürt die Gewissheit, dass dieser Planet sehr lange Zeit ohne die Menschheit zurechtgekommen ist, und auch ohne uns zurechtkommen wird – in welcher Form auch immer.

Gerade als die Fragen wieder aufkommen, kommt eine größere und schnellere Welle vorbei, bringt Unwucht ins Boot, pflügt einmal durch den vertrauten Schaukelrhythmus aber verzieht sich auch genauso schnell wieder in die Dunkelheit.

Wir sind ein paar Grad weiter vom Kurs abgekommen als normalerweise, aber schon nach wenigen Momenten hat der Chill-O-Maat (die Windsteueranlage) die Lage im Griff und Kassiopeia taucht wieder über Backbord auf. Mehr brauche ich nicht zu wissen, setze mich und lasse meinen Geist wieder von der Kette.

Ich frage mich nach einer Weile, ob man Marshmallow-Segel eigentlich essen kann, als Sonja im Niedergang erscheint. Zeitgefühl habe ich gerade keines aber vermutlich beginnt gleich Ihre Schicht oder die Welle hat Unruhe unter Deck verbreitet.
„hey Käp´n! Sag mal schläfst Du wieder auf Wache?“ ist der erste Satz, der hier draußen seit drei Stunden gesprochen wird und dennoch habe ich das Gefühl als hätte ich mich stundenlang unterhalten.

„Schlafen? Hier draußen? Ganz sicher nicht.“

Nautisches:

Unser ursprünglicher Plan mit dem Zielhafen Coruna in Nordspanien war wettertechnisch kaum zu machen und so war nach einigen Planänderungen klar, dass der Raum um Lissabon realistisch für unser Zeitfenster ist. Nach zwei ruhigen und fast windstillen Tagen, an denen wir auch nachts aufgrund der bizarren Lautstärke, keine Motivation hatten, den Motor anzuwerfen, schickte uns gemächlich einsetzender Nordwestwind auf Kurs. Vom dritten Abend an, setzten dann die ersten Passatvorläufer ein und droschen Pantera bei halbem Wind in die richtige Richtung, lediglich von zwölf Stunden Tiefdruckgebiet inklusive Ostwind unterbrochen. Seit Mitte Juli liegt die Dicke jetzt in Lissabon.

Kurz gesagt: Es war nicht immer Genusssegeln aber es war ein Fest!

Vielen Dank an alle, die mitgefiebert und uns von Zuhause aus unterstützt haben und Vielen Dank für eine Crew, die Ruhe an Bord erst möglich gemacht hat.

Ich freu mich, die nächsten Meilen warten schon!   

zum Schluss:

Lars kann man hier supporten: http://kapitaenohlsen.de, außerdem hat er noch einige exzellente Bilder beigesteuert, unter anderem das Titelbild!