Seemannsgarn

Zeitkapsel

Wir stehen mitten auf der Straße an einem Samstag Vormittag.

Wir stehen an, genauer sind wir Bestandteil zweier Schlangen verschiedener Einzelhändler und können uns dabei sehen. Wir stehen etwa 30 Meter entfernt voneinander und mit uns sind hier noch gut ein Dutzend anderer Menschen, mit ausreichend Abstand versteht sich. Das sollte man und muss man vielleicht in der jetzigen Zeit dazu schreiben, weil wir alle darüber nachdenken. Weil wir alle dazu gehören und weil wir über Sicherheitsabstände, Infektiosität und Inkubationszeiten nachdenken.

Kohortenstudie, Antikörper, Immunglobuline und PCR-Tests sind mittlerweile im ganzen Land ebenso geläufige Begriffe wie Letalität. Im Schnelldurchgang wurde bundesweit das Allgemeinwissen in Virologie und nahverwandten Wissenschaften derart angehoben, dass man gespannt sein darf wie die Biergarten-Gespräche in der Zukunft verlaufen:


„Das musste mit ner PCR nachweisen!“

„Ne, das geht auch mit ELISA!!“

„ABER NUR WENN`  S VALIDIERT IST!“

Prost.

Zurück zur Schlange. 

Wer kann, stellt sich in die Sonne und wer nicht kann, schaut eben Anderen dabei zu. Vielleicht wärmt betrachtete Wärme ja irgendwie mit. Im Schlagschatten der Häuser ist es so früh am Tag noch kühl in der Innenstadt, doch der Sommer wird nicht lange auf sich warten lassen. Zumindest darauf kann man sich verlassen.

Vor mir kauft sich eine Frau eine Tageszeitung, also eigentlich bestellt sie eine Tageszeitung und bekommt sie von der Verkäuferin nach draußen gebracht, zusammen mit einem kleinen Korb in dem die Quittung liegt und der Zahlvorgang vorgenommen werden soll. Die Frau trägt dabei einen selbst genähten Mundschutz und bestätigt auf Nachfrage der Zeitungsdame: „Ja, den hat mir eine Freundin gestern geschenkt“. Deutschland im April 2020.

Wir stehen nun ungefähr 20 Minuten hier, genauso wie die anderen Menschen, aber nirgendwo spürt man Ungeduld oder Unzufriedenheit. Es fahren kaum Autos durch die sonst viel befahrene Straße, weswegen wir auch kreuz und quer über die Fahrbahn verteilt sind. Einzelne Fahrradfahrer, ein paar Straßenbahnen, eine Polizeistreife…aber keine Aufregung, nirgends. 

Im Gegenteil, die Menschen wirken fast froh hier zu sein, vor der eigenen Tür, draußen – wenn auch nur für 20 Minuten. Die Ausgangsbeschränkungen gelten nun seit über 4 Wochen und die anfängliche Angst und Unsicherheit ist einer Ruhe gewichen, fast einer Beruhigung.

Der Alltagspuls hat sich verlangsamt und damit auch das Leben generell. Wir stehen langsamer an, kaufen langsamer ein, begegnen einander langsamer. Wozu auch beeilen wenn es kaum mehr Termine gibt. In einer Schlange zu stehen, kommt dem alten gesellschaftlichen Miteinander zumindest so nahe, wie kaum eine andere Tätigkeit in der Heim-Isolation. Ich fühl mich gerade nicht unwohl, ein wenig Gemeinschaftsgefühl bleibt ja auch an mir hängen. Dennoch verliert sich mein Blick an den Fassaden der geschlossenen Läden. Irgendetwas in mir wünscht sich immer wieder mal den Moment, dass eine Tür aufgeht und der gut gelaunte Aufnahmeleiter zu uns kommt, in die Hände klatscht und sagt: „CUT! Das war sehr gut, sehr authentisch, die Szene haben wir!“.

Folge 1, Staffel 1 von „Tage der Dystopie“ (engl.: „Days of Dystopia“) – die neue Streaming-Serie.  

Ich schaue nacheinander jede geschlossene Ladentür an und dann im Wechsel zu Sonja hinüber und frage mich, ob sie auch auf den Regisseur wartet. Vermutlich nicht, denn ich verstehe nämlich langsam was hier läuft. Die Schlange, der Mundschutz, das Virus und diese neue Serie, das ist alles nur einer dieser einseitig amüsanten Michel-Träume aus denen ich schon vor dem Aufwachen aufwache.

Sonja kann unmöglich dasselbe denken, weil wir ja eigentlich ganz woanders sind…und dann öffnet sich die Zeitkapsel.

November 2019, Portugal – Algarve

Ankern kann grausam sein oder auch ganz wunderbar. Es thront gewissermaßen über dem Segeln und liefert fortlaufend Stoff für Mythen und Seemannsgarn ebenso wie Anekdoten über paradiesische Zustände. Eine kurze Geschichte über ein Manöver, dass eine ganze Szene prägt – von innen, wie von außen.

Der Anker ist überall. Er ist das Symbol fürs Segeln und die unangefochtene Nummer 1 für alles, was auch nur irgendwie den Hauch einer Affinität zur See hat. Außerdem ist er auch das Symbol für alles, das absolut keine Affinität zur See hat aber gekauft werden soll, also auch wieder alles.

Es gibt T-Shirts, Kapuzenpullis, Anzugjacken, Krawatten und Mützen mit Ankern und es gibt Toastformen, die den Anker aufs Toastbrot brennen. Außerdem gibt es Golftaschen, Bettwäsche, Tapete, Christbaumkugeln und Nachttischlampen – und natürlich Tattoos. Auf Armen, Beinen, auf Brust und Rücken, als Unendlichkeitsverschluss und als Tränenersatz. Anker sind überall, nicht nur an Schiffen oder in Küstenorten. Und…warum auch nicht?

Wenn es nach mir ginge, hätte eigentlich wirklich alles einen Anker. Seitdem wir das Boot haben, besitzen wir auch merklich mehr davon und wegen mir könnte auch einfach ein Anker auf allen Zahnbürsten sein, auf dem Werkzeug oder der Bordtoilette. Ganz egal, Anker geht immer!

Was dagegen nicht immer geht: Ankern.

Oft wenn Menschen Zuhause mit uns über unsere Bootsreise reden, und allen voran auch etwas über Probleme hören wollen, stellen sie Zwischenfragen wie „naja aber ihr könnt doch ankern?“. Wenn ich beispielsweise gerade erzählt habe, dass wir “18 Stunden unter Motor gegenan gefahren sind – also gegen Wind und Welle. Sprich: Wir haben den halben Tag und eine Nacht hindurch eine Achterbahn im Schichtbetrieb gesteuert, minutenweise unterdecks auf dem Boden und neben dem röhrenden Diesel geschlafen und uns von Resten aus der Chipspackung ernährt“. Und mein Gegenüber dann so: „und wieso habt ihr nicht geankert?“. Einmal hat mich auch jemand gefragt, wie wir das dann eigentlich nachts machen bei einer langen Überfahrt, wie zu den Azoren. Und ob wir dann nachts den Anker auswerfen?

Ich kenne Niemanden, der das hämisch oder böse meint und ich möchte hier selbstverständlich niemanden veralbern, aber es könnte eben kaum weiter von der Realität entfernt sein. Und zudem, woher sollte man es wissen, wenn man nicht gerade mit dem Boot unterwegs ist? Wir wussten es ja ohne Boot auch nicht besser!

Theoretisch kann man fast überall ankern, das stimmt – zumindest in Küstennähe. Vorzugsweise aber auch nicht bei tieferem Gewässer als der fünffachen Kettenlänge. Für uns bedeutet das 6m Wassertiefe (weil 30 Meter Kette). Dann kommt natürlich noch der Untergrund dazu. Der sollte am besten schlammig oder sandig sein, eher nicht mit vereinzelten Steinen oder gar felsig. Irgendeine Form von Bucht oder windabgewandte Einbuchtung wäre schön und am besten mit möglichst wenig Strömung und nur moderatem Schiffsverkehr. Vor dem geistigen Auge schrumpfen so die Ankermöglichkeiten zusammen wie die designierten Aufstellungsorte bayerischer Windräder.

Natürlich ankert man auch nicht immer optimal. Wir haben einmal auf 17 Metern Wassertiefe erfolgreich geankert (Costa Brava) und wir haben auch schon auf 5 Metern erfolglos geankert (Gran Canaria), zumal spontan einsetzende Fallwinde selten vorhergesagt werden. Zweimal haben wir fast das komplette Ankergeschirr in den felsigen Buchten der Costa Brava “verloren“ und dann war da noch das eine Mal westlich von Barcelona als wir dachten, wir könnten so ganz ohne Bucht eine Nacht vor Anker verbringen. Weil, es war ja windstill und sandiger Grund und Hochsommer und da ist absolut nichts vorhergesagt. Und dann kam eine, gefühlt uralte Dünung aus Süden, die eine schutzlose Crew in einer schutzlosen Yacht sehr effizient aus den Kojen pfeffert.

Wir wollten auch schon einmal in einem betonierten Kanalabschnitt in den Vogesen ankern – ohne Vernunft und ohne Chance. Auf hoher See haben wir es wahrscheinlich nur aus Ermangelung von 15.000 Metern Kette nicht versucht, aber letztlich führen erfolglose gegen erfolgreiche Ankermanöver noch immer.

Aber ganz gleich wie oft Ankern misslingt oder funktioniert, im Endeffekt ist es etwas sehr Spezielles – zumindest für mich. Selbst zu entscheiden ob wir den Anker hier oder 50 Meter weiter fallen lassen, ist schwer anders zu beschreiben als mit einem großen Wort: Freiheit.

Freiheit ist ein so absoluter Begriff, dass er zu Ende gedacht, wohl eine Illusion darstellt. Grenzenlos, unendlich und vollkommen soll sie sein, die Freiheit, und sie wird sicher ebenso oft mit dem Segeln in Verbindung gebracht wie der Anker. Der Realist wird einwenden, dass es immer nur eine relative Freiheit gibt: Bürofenster in Relation zum Cockpit, Campingplatz in Relation zum Ankergrund, Autobahn in Relation zum Ozean. Der Segler wird anfügen, dass man Bürofenster bei Starkregen schließen kann, dass Campingplätze über Strom, Duschanlagen oder Biergärten verfügen und, dass man auf Autobahnen entscheiden kann wohin und wie schnell man fährt. Unbeeinträchtigt von Wind und Strömung. “Alles ist relativ“ soll Galileo schon vor Jahrhunderten gesagt haben und er behält Recht, es betrifft auch die Freiheit. Einzig die Perspektive ist entscheidend.

Kurz nachdem der Anker das erste Mal einruckt und uns auf Position hält, gehe ich oft zu Sonja in den Bug und wir schauen nach der Ankerkette und dem ganzen Drumherum. Wir warten dann wie weit Pantera wandert und ob wir uns anderen Booten oder seichten Gewässern nähern. Manchmal stehen wir dann minutenlang da und reden nichts, achten nur darauf was dieser Ankerplatz für uns bereithält. Pantera braucht einige Zeit, bis sie sich eingependelt hat und ihren neuen Platz zwischen den Elementen einnimmt.

Von da an bewegt sie sich, bewegen wir uns, um den Anker. Je nach Wind und Strömung, je nach Ebbe und Flut wandert sie dann fast unmerklich um unser kurzweiliges Zuhause und zeichnet unsichtbare, konzentrische Kreise ins Wasser. Segler nennen das „Schwojen“, ich nenne das „Tänzeln“. Der Panther bittet zum Tanz und wir tanzen mit.

Irgendwann schauen wir uns dann an, tun so als ob keiner wüsste, was der andere gleich sagt um dann ohne Skript aber dafür peinlich simultan zu fragen: „Sundowner?“.

Warum nicht? Ein Tanz, ein Bier, was sollte schon schief gehen…

„Hallo, was möchten Sie denn nun?“ ertönt die Frage ein ganz klein wenig zu laut. Nicht wirklich unhöflich aber zu laut, weil ich wohl die erste Version nicht wahrgenommen habe. Ich blinzle ein paar Mal und reibe mir die Augen. Kleine bunte Neonsterne tauchen auf, nur um sich zügig wieder zu verziehen. Orbse nennen manche Menschen solche Lichtpunkte und glauben, dass das Lichtwesen aus einer Nebendimension sind. Mir fällt dann doch noch meine Wunschzeitung ein und danach auf, dass immer noch kein Aufnahmeleiter oder Produzent erschienen ist, nicht einmal ein Tontechniker. Die Zeitungsfrau ist dennoch zügig mit der Bestellung zurück und als ich bei Sonja auf der anderen Straßenseite ankomme, schaut sie mich so an, wie sie es häufiger macht, wenn sie eine Vermutung hat. Sie ahnt wohl, dass ich in Gedanken war. Die Augen leicht geschlossen, den Kopf etwas zur Seite geneigt wird sie mir gleich eine dieser entlarvenden Fragen stellen.  Eine von den Fragen, die mehr durch ihre Art wirken als durch ihren Inhalt. Doch diesmal bin ich vorbereitet. 

„Na, warst Du wieder bei der Pantera?“.

„Mhmm“

„Und geht´ s ihr gut?“ 

„Ja…was sollte schon schief gehen?“

Zusatz/Nautisches:

Annalena war von Lissabon bis Portimao ein Teil der Crew und hat sich so ihre ersten Seemeilen auf der dicken Pantera ersegelt. Wenn auch nicht unbeeindruckt vom atlantischen Seegang, hat sie uns tatkräftig und mit viel Ingenieurswissen unterstützt. Vielen Dank dafür!  

Der Text über das Ankern entstand Anfang Dezember 2019 an der portugiesischen Algarve. Wir wollten damals endlich diesen Teil der Segelwelt mit eigenen Augen sehen und erfahren, ob all das Lob über diese Küste auch im Dezember zutrifft. Kurz gesagt: es trifft! 

Der Atlantik ist kalt zu dieser Zeit und ohne Sonne zu segeln ist nur etwas für Liebhaber nördlicher Breiten aber dort zu Ankern ist sensationell.

Ich weiß nicht genau, warum ich diesen Text nicht fertiggestellt hatte aber für mich ist er mittlerweile sehr speziell, denn es ist der letzte Blogeintrag bevor sich das Leben verändert hat. Ein Text, der ohne jeden Einfluss von Sars-CoV 2 entstanden ist.

Pantera ist jetzt an der portugiesisch/spanischen Grenze am Rio Guadiana. Die Entscheidung auf der portugiesischen Flussseite festzumachen fiel damals sehr spontan, schwer zu sagen welche Auswirkungen das in Zukunft für uns hat und wann wir unser Boot überhaupt wiedersehen können. Unsere Rückreise nach Portugal war für den 23. März gebucht und fand bekanntermaßen nicht statt. Im Moment sind alle portugiesischen Marinas für die Ein- und Ausfahrt gesperrt (Stand 21.04.2020).