Binnentour, Fernweh, Longread

Niemandsland

„Wem gehört eigentlich das Niemandsland?“ so oder sinngemäß fragte mich einmal ein guter Freund vor mehr als 20 Jahren und erntete dafür viel Gelächter und im Nachgang wiederkehrenden Spott. Nun, junge Heranwachsende sind nicht unbedingt immer Meister im gepflegten Diskurs. Doch man sollte entschuldigend anfügen, dass das eine andere Zeit war, natürlich, und dass man hauptsächlich Dosenbier, Party und Abi im Kopf hatte – in dieser Reihenfolge.

Also Bier beiseite: Was ist los mit dem Niemandsland?

Gebietsbezeichnungen dienten häufig als Orientierung oder Attribut. Schon seit Jahrhunderten sprechen Menschen vom Morgen- oder Abendland, wenn sie von Ländereien im Osten oder Westen sprechen. Vom Hochland übers Tiefland und vom Outback bis hin zum „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ist alles irgendwie konnotiert. Feuerland beispielsweise wurde von Magellan aufgrund der von See aus sichtbaren Feuerstellen so benannt und vom „Fledermausland“ insidern Cineasten und Fans von Johnny Depp noch heute.

Bei ein wenig nüchterner Betrachtung wird klar, dass das Niemandsland ein widersprüchlicher Begriff ist, und dass es keinesfalls offenkundig ist, was damit gemeint ist. Wer ist eigentlich Niemand? Wer hat dort das Sagen? Niemand oder vielleicht alle? Und, welche Uhrzeit herrscht dort eigentlich?
Derlei Fragen stellt man sich meist erst dann, wenn man damit konfrontiert wird. Im letzten Sommer werden wir damit konfrontiert.

Es ist Juli 2020 und wir ankern seit mehreren Wochen mehr oder weniger mittig im Rio Guadiana, einem Grenzfluss zwischen Portugal und Spanien.

Es ist heiß. Nicht nur irgendwie heiß, sondern die in Zeit direkter Sonneneinstrahlung fühlt sich schlicht ungesund an. Seit fast zwei Wochen sind es konstant über 35 Grad und daran gewöhnt man sich irgendwie. Seit zwei Tagen sind es jetzt über 41 Grad und mit dem „gewöhnen“ bin ich mir nicht mehr ganz sicher.

Ich sitze im einzig geöffneten Café in Alcoutim (Portugal) unter einem Baum im Schatten. Der Baum wirkt sichtlich alt und kommt entsprechend respektabel daher, fast herrschaftlich. Er hat seine Wurzeln einige Meter über der Uferpromenade ausschlagen lassen und genießt nun mitten auf der sonst so beliebten Terrasse fast zwangsläufige Prominenz, eine Art Bürgermeisterbaum. Selbstredend, dass er den besten Platz im Ort einnimmt und dankenswerterweise den Cafébesuchern Schatten spendet. Mein Dank ist ihm sicher, denn aktuell kann ich anhand einzelner erhitzter Hautpartien feststellen, wenn das Blätterdach des Bürgermeisters Sonnenstrahlen hindurchlässt. Hat in den letzten Tagen zumindest noch ein zarter Wind geweht und wenigstens für gelegentliche Kühlung gesorgt, so ist es seit gestern absolut windstill. Pantera liegt fast wie in Stasis mit dem Bug flussaufwärts, ebenso wie das gesamte Ankerfeld hinter ihr. Nichts und niemand bewegt sich, mein gesamtes Blickfeld wirkt als hätte jemand auf Pause gedrückt. Ich frage mich, ab wie viel Grad eigentlich Luft zu flirren beginnt? Ab 40 oder 50 Grad oder doch erst ab 60? Vielleicht auch erst bei noch höheren Temperaturen? Schwer zu sagen.

So oder so, das Internet durchsuchen werde ich jetzt auf keinen Fall. Viel zu gefährlich, dass mir das Handy schon beim Eintippen in der Hand explodiert. Stattdessen habe ich mich dafür entschieden, es in meiner Hosentasche bei irgendwas um die 36 Grad zu kühlen. Zudem brauche ich auch nicht zu recherchieren, denn zumindest in meiner Wahrnehmung flimmert die Luft. Wenn ich über den Fluss schaue und mein Blick über die Festung von San Lucar (Spanien) hinausgeht, dann flackert das Bild, da bin ich ganz sicher.

Wahr ist, was man sieht

Was man sieht, ist wahr und was man nicht sieht, nun mal nicht. So war das ja schon immer und darum wundere ich mich auch zunehmend darüber, dass die Menschen hier überall Mundschutz tragen. Im Café, im Supermarkt, im Bus und selbst am Strand. Mundschutze überall, wegen einem unsichtbaren Virus der ja „nur ´ne Grippe ist“. Und überhaupt: Wo kommen wir denn hin, wenn sich dem jetzt alle unterwerfen, anstatt sich mit stolzer Brust zu exponieren und so dem Immunsystem wieder etwas zu tun zu geben. Man muss ja im Training bleiben und so weiter. Man muss ja solche Krankheiten überstehen und daran reifen, irgendwie. Nur so kann das Geist-Ich vollständig werden und endlich wieder den Weg nach Atlantis finden. Dort wo alles begann…wo Milch und Honig fließen…und wo keine Chemtrails oder gar Echsenmenschen echseeeeeestieren…

„Disculpe?“ höre ich, aber erkennen kann ich zunächst nur den frischgepressten Orangensaft, dann die Eiswürfel darin und erst zuletzt die Bedienung. Sie trägt Mundschutz aber an ihren Augen sehe ich, dass sie lächelt und aus dem Spiegel-Magazin auf dem Boden schließe ich, dass ich nicht ganz bei mir war.

Kurz gesagt: es ist heiß.

Ich bin der einzige Gast im Café und auf der gesamten Terrasse gibt es derzeit nur mich, den Bürgermeisterbaum und eine fast lauthals schlafende Katze zu meinen Füßen. Der Spiegel liegt sogar halb auf ihren Pfoten aber es juckt die Katze nicht. Sie schnauft so, wie ich mir Schnaufen vorstelle, wenn man versucht schneller oder intensiver zu schlafen um Schlaf aufzuholen. Am frühen Nachmittag und mit 41,7°C ist es nicht gerade die aktivste Zeit hier in Alcoutim. Keiner da, nichts bewegt sich außer womöglich der Luft. Mit den Gedanken fange ich jetzt aber nicht schon wieder an!

Schnelles Geld, schneller Tod

„Jetzt nehmen´se ma Haltung an, Herr Kapitän!“ schallt es nonverbal durch meinen Kopf und wie bestellt setze ich mich aufrecht statt fast-waagrecht. Keine Ahnung, wo dieser Befehlston herkam, aber um meinem Geiste Absolution zu erteilen schaue ich auch über die Schulter. Und tatsächlich steht da jemand. Ein Uniformierter wartet nur ein paar Meter entfernt und kauert sich an das Geländer. Er hat ein Gewehr geschultert und blickt irgendwie streng aber auch irgendwie abgeklärt in Richtung Spanien. Obwohl mitten in der Sonne rührt er sich nicht, verzieht keine Miene, blickt starr und schwitzt keinen Tropfen. Wie auch, denn er ist zwar lebensgroß aber anstatt aus Fleisch und Blut besteht er aus blendend weißem Marmor. Es gibt drei solcher Marmormenschen hier im Ort. Der Zöllner hier auf der Terrasse, ein Fischer, der am unteren Markt seine Netze kontrolliert und ein umherschleichender Schmuggler, gleich neben dem Steg. Zusammen bilden sie ein Denkmal, dass die lange Geschichte der Schmuggelei in dieser Grenzregion symbolisiert. Über Jahrhunderte und schließlich bis in die 1930er Jahre wurden illegal aber wohl lukrativ Waren von West nach Ost (Kaffee und Mandeln) und von Ost nach West (Baumwolle und Gewürze) transportiert. Von der Mündung des Guadiana bis hier oben sieht man deshalb immer wieder halb-verfallene Zollstationen. Dutzende dieser Stationen waren einst bemannt als die Schmuggelei noch florierte, damals als die beiden stolzen Nationen sich nicht viel zu schenken hatten außer Blei und blankem Stahl. Bald ist dieser Teil der Geschichte hundert Jahre her und das Verhältnis zwischen Portugal und Spanien hat sich verbessert, man könnte es geradezu als kollegial bezeichnen. Spätestens mit der europäischen Zollunion ist das Thema Warenschmuggel am Guadiana ohnehin Vergangenheit und der Mühen nicht wert.
Na gut, Drogen finden immer ihren Weg, aber irgendwas ja immer.
Was bleibt?
Nun, der kommerzielle Schmuggel hat über viele Jahrzehnte neben schnellem Geld auch den schnellen Tod in die Gegend gebracht und wirkt in Marmor nicht glorifizierend, sondern als Mahnung für die Zukunft.

Wenn ich dem Blick des Zollbeamten folge, sehe ich irgendwann Pantera inmitten anderer Boote und inmitten zweier Länder. Auch Pantera wirkt auf mich irgendwie abgeklärt, aber keinesfalls entspannt, aber dazu später mehr.

Sie liegt nun in einem Fluss, der als natürlicher Grenzstreifen dient und teilt sich diese Transitzone mit Dutzenden anderen. Im Niemandsland.

Ankern nach „George“

Sie ist jetzt wieder etwas näher an Spanien als noch vor wenigen Stunden, da das Ruder auf Backbord arretiert ist. Unser Ankernachbar George hat mir das empfohlen, da wir sonst konstant an der Ankerkette entlang wandern würden. Von links nach rechts und umgekehrt. Ich nenne ihn hier  George, weil ich wie so oft bei der Namensvorstellung wieder nur an meinen Namen gedacht habe. Warum? Schwer zu sagen, anscheinend muss ich mich dabei konzentrieren. Wenn man im Anschluss nicht rechtzeitig nachfragt, ist der Moment der Ehrenrettung verstrichen und es bleibt nur den Namen anders herauszufinden. Entweder über gesprochene Lückentextfragen oder durch Zufall. Oder man vergibt einen Alias und das ist so ein Fall: er ist ein sehr höflicher Brite, vom alten aber angenehmen Schlag, wie sollte man ihn also sonst nennen als George?

George hat also völlig Recht, denn er ankert hier schon seit Monaten und hat etwas verinnerlicht, dass mir immer noch zu denken gibt: Ebbe und Flut. Ja, und zwar auch hier „oben“, vierzig Kilometer entfernt von der Mündung in den Atlantik. Der Rio Guadiana ist ein Fluss, wie viele andere und ich dachte eigentlich, ich hätte auf Flüssen alles erlebt: extremes Hochwasser (Frankreich 2016), extremes Niedrigwasser (Herbst 2015), etliche Festfahrungen und eine Havarie. Doch, weit gefehlt.

Der Guadiana ist ungeschleust und wurde nicht anders baulich verändert, das bedeutet er ist über 60 Flusskilometer landeinwärts noch Tidengewässer und bekommt somit die ganze Macht der Gezeitenströme zu spüren. Ebbe und Flut bedeuten hier: der Fluss ändert etwa alle 6 Stunden und 15 Minuten seine Fließrichtung. Kein Witz.

Flussabwärts heißt bergauf!

Mag sein, dass es LeserInnen gibt, die damit rechnen würden. Für mich ist das nichts weniger als eine Sensation. Für mich waren (und sind!) Flüsse, verdammt nochmal, Einbahnstraßen bezüglich des Wassers. Hier jedoch, kann es sein, dass ein toter Baumstamm dreimal an einem vorüberließt. Bergab, bergauf und wieder bergab. Wehe, wenn jetzt jemand „flussabwärts“ und „flussaufwärts“ sagt, das funktioniert so nicht, denn Ebbe und Flut nehmen diese Begrifflichkeiten mit sich, wenn sie zuschlagen. Heißt: bei Flut liegt Flussabwärts nämlich bergauf!

Na, wie fühlt sich das an? Geht noch mehr?

Gut, denn normalerweise ankert man auf einem Fluss ziemlich stationär. Anker raus, Anker sitzt, Boot hängt flussabwärts an der Kette. Nicht so im Tidengewässer. Nicht hier.
Alle sechsundnochwas Stunden fährt Pantera quasi einmal über den Anker und pendelt ihr Heck in Richtung bergauf, denn dann kommt die Flut.

Unter Deck hört sich das so an, als ob ein Panzer versucht vor einem vollgeparkten Discounter den letzten freien Parkplatz zu erwischen. Ohne Einparkhilfe. Die Stahlkette rasselt und rattert dann über den Grund und überträgt filterlos den Sound ins Bootsinnere.

Nehmen wir mal an, man kann sich irgendwie auch daran gewöhnen. Nehmen wir dabei an, es wird irgendwann „ok“, wenn mitten in der Nacht Panzer durch das Boot fahren und nehmen wir weiter an, dass irgendwann das Gefühl dominiert: „ach, er wird schon halten“.

Alles klar? Na dann weiter!

Denn, arretiert man das Ruder in der Mitte, fährt Pantera pendelförmige Linien über Grund. Sie fährt permanent, weil ja Wasser an ihr vorbeiströmt. Dabei macht sie “Fahrt über Wasser“, reagiert also dementsprechend auch auf Lenkbewegungen. Mittiges Ruder bedeutet, sie fährt eigentlich gerade aber irgendwann bekommt sie immer einen Drall vom Wind oder einer Welle oder wird von einem kapitalen Fisch. Egal wie, sie fährt danach maximal in die eine Richtung, bis sie am Endpunkt den eigenen Schwung vom Heck bekommt und wieder in die andere Richtung fährt. Den ganzen Tag. Immer.

Sie fährt dann nicht nur sehr langsame Schlangenlinien, sondern kommt auch je nach Ankerfeld, den Nachbarbooten beträchtlich nahe. So nahe, dass man sich genau überlegt, welche Nachbarn ebenfalls einen Stahl- oder Aluminiumrumpf haben oder, welche nur aus Plastik sind.

Wenn es um Kollisionen geht ist das “Schere, Stein, Papier“ der Schiffsrümpfe klar verteilt: Plastik ist das Papier, verliert aber immer, gegen alle.

Durch die Variante nach George ist das Ruder auf einer Seite festgestellt und Pantera fährt bis zum Maximum einer Seite und bleibt dann dort, naja, bis zur nächsten Tide. Dann geht das Spiel von vorne los, nur gespiegelt. (für Mathe-afficionados: punktgespiegelt). In der Praxis bedeutet das, dass Pantera dann je nach Zug an der Kette so 30-60 Meter durch die Gegend fährt und man dann sehr viel näher an Spanien oder an Portugal ist.

Was macht der Puls? Einen habe ich noch:

Je näher man an dem einen oder anderen Land ist, führt dann auch dazu, dass automatisch netzsuchende Handys sich in das jeweilige Mobilfunknetz einwählen und die entsprechende Zeitzone adaptieren. Na klar, weil in Portugal die britische Zeit herrscht und weil dieser Fluss nicht nur zwei Länder voneinander abgrenzt, sondern auch zwei Zeitzonen. Und so reist man, wenn man hier ankert, auch beständig durch die Zeit. Eine Stunde vor, eine zurück, eine vor, eine zurück. Ganz praktisch ist das, wenn die Bar in Spanien zumacht und man nur über den Guadiana muss um eine Stunde Thekenzeit zu gewinnen. Für die gläubigen aber ruhelosen Frühaufsteher in Portugal kann sich am Sonntag wiederum der Weg nach Spanien lohnen um eine Stunde eher in die Kirche zu gehen, oder sogar zwei Andachten in zwei Sprachen mitzunehmen – je nach Bedarf. 

Der Sonnenuntergang ist glücklicherweise weniger wankelmütig und für beide Seiten zur selben Zeit. Zumindest näherungsweise (für die Hardliner).

Kachelofenglück im Sommer

Einige kalte O-Säfte und Haltungskorrekturen später fahre ich mit den letzten Sonnenstrahlen zurück an Bord. Hinter mir tuckert der Außenborder und verströmt auffällig viel Lärm und Bewegung in die noch immer pausierte Szenerie. Es ist Ebbe und Pantera liegt „normal“, also mit dem Heck in Richtung Atlantik. Die Hügel im Westen spenden jetzt Schatten und die Sonne beleuchtet nur noch die oberste Spitze des Masts. Ich denke, man würde den Temperaturunterschied da oben immer noch spüren und bin froh, dass wir hier unten auf Wasserebene jetzt ein paar Stunden Hitzefrei bekommen. Das Deck ist warm, sehr warm eigentlich und wenn man sich in den Bug setzt, bekommt man unweigerlich dieses Kachelofengefühl. Wie, wenn man im Winter von draußen hereinkommt und das irdische Glück anhand einer wohlig warmen Sitzfläche greifbar wird.

Dieses Gefühl lässt sich auch im Hochsommer erfahren, anders zwar aber wenn noch dazu die Beine über die Deckskante baumeln, unter einem der Guadiana rauscht und vielleicht sogar jemand kaltes Bier durch das Bugluk reicht, verschwinden für den Moment jegliche Zweifel.

Bei genauerer Betrachtung entstehen aber Zweifel daran, ob der Fluss wirklich vorbeirauscht, mehr noch, ob er überhaupt noch fließt. Das Wasser wirkt unbewegt, fast zäh. Einige Meter entfernt erkennt man noch einige kleine Wirbel und wenn man aufblickt, wird klar, dass Pantera mittlerweile fast quer steht. Ich betrachte die anderen Boote unterhalb und sehe, dass fast alle noch stärker querstehen. Ich muss schmunzeln, weil ich weiß was kommt: Stillwasser.

Als Stillwasser bezeichnet man den Moment zwischen Ebbe und Flut an dem das Wasser sich nicht bewegt, also zumindest keine Strömung aufweist. Immer direkt bevor sich der Gezeitenstrom umkehrt, herrscht für wenige Minuten ein zaghaftes Gleichgewicht an diesem Ort. Die Wassermoleküle kommen zur Ruhe und aus dem Fluss wird ein See. Die Boote schwimmen dann nicht mehr in Reih und Glied, sondern ohne Zug an der Ankerkette und ohne direkten Zwang außer durch den Wind. Es ist wie eine Verschnaufpause bevor wieder alle die Richtung ändern und abermals in Formation ankern, bevor wieder Ketten, Anker und Geschirre einrucken und gegen die Anziehungskräfte anhalten.

Es ist ein kosmischer Moment. Zum einen, weil alles was mit der Zeit zu tun hat auch irgendwann mit dem Universum zu tun hat und zum anderen, weil der Mond den Protagonisten für dieses Schauspiel gibt. Die Aufführung wird nur möglich, weil weit größere als menschliche Kräfte sich für kurze Zeit diesen abgekarteten Schaukampf liefern an dessen Ende immer der Herausforderer gewinnt. Ebbe folgt auf Flut, Flut folgt auf Ebbe, folgt auf Flut, folgt auf Ebbe, und immer so weiter. Bis zum nächsten Kampf. Wenn der letzte kleine Wirbel auf der  Wasseroberfläche verschwunden ist, ist das Duell entschieden und bloße Vergangenheit.

Das letzte Bild

Jetzt liegt alles still und, wenn es ein Hollywood-Film wäre, müsste man sich jetzt ernsthaft auf einen Schockmoment vorbereiten. Irgendein apokalyptisches Endzeitszenario würde nun hereinbrechen. Man würde sich im Kinosessel verkrampfen, um den bevorstehenden Schock abzumildern. Getreu der Erwartung, schaue ich auf die nächste Flussbiegung einige hundert Meter südlich. Im Film hört man gleich ein sanftes Grollen, dann ein Donnern und mit dem überlauten Geräusch eines platzenden Wassertanks, rauscht dann eine fünf Meter hohe Welle aus Wasser um die Kurve und auf mich zu. Boote jeder Größe werden zu Spielzeug, wirbeln herum und werden widerstandslos verschluckt. Das Wasser ist jetzt wie Stein und zermalmt sich seinen Weg durch das Flussbett. Die Welle wird nicht langsamer, ist noch lange nicht fertig. Das letzte Bild des Films zeigt mich, wie ich im Bug stehe und die Welle erwarte. Nur noch wenige Meter bis zum Einschlag…und dann, mach ich das Bier auf.

Es ist weit und breit keine alles-vernichtende Welle zu sehen. Lediglich die entferntesten Boote stehen mittlerweile in umgekehrter Formation, sie sind der Blick in die Zukunft. Hier und jetzt ist Gegenwart, sehr schwer zu fassen und unmöglich festzuhalten…aber wo, wenn nicht hier?

Inmitten von Ländern und Zeitzonen, wo Niemand das Sagen hat aber alle mitreden können und wo Niemand das Land besitzt und es irgendwie allen gehört. Dort, wo „flussaufwärts“ nur noch relativ ist und die Uhrzeit an der Ankerkette hängt.

Wo lässt sich die Gegenwart besser erfahren, wenn nicht hier im Niemandsland? Wann lässt sie sich besser erfahren, wenn nicht jetzt, zur Niemandszeit?