Binnentour, Fernweh, Longread

Boatyard Blues

Was ein Boatyard mit der Zombie-Apokalypse zu tun hat? Na, zumindest das massive Eisentor und die drei Meter hohe Mauer. Ohne Lücken und mit Stacheldraht ummantelt, wehrt das sicherlich einige Zombies ab, zumindest nach der Walking-Dead-Logik.

Ohnehin kann man sich nur schwer dem Befestigungscharakter entziehen, wenn man Bruce´ Boatyard in Faro betritt. Magnetkarte zum Öffnen, Flutlichtscheinwerfer und die obligatorischen Kameras – zum Schutz versteht sich. Es gibt noch weitere Parallelen zur Endzeit-Serie, und zwar der Unterschied zwischen der Welt außerhalb und innerhalb der Mauer. Draußen herrschen zwar keine Zombies, weil Fiktion, aber vor der Mauer ist die globale Realität, die Pandemie, der Lockdown und innerhalb? Da ist Boatyard-Leben mit Schweißen und Smalltalk, (fast) so als wäre nie etwas passiert. Und trotzdem, wer will schon wochenlang mit dem Boot auf dem Trockenen liegen anstatt zu segeln? Nur eine Frage der Zeit, bis da der Blues einkehrt – oder?

Es folgt der Boatyard-Blues, eine Miniserie im Episodenformat:

Episode 01/Staffel 01: Stromausfall

Zurück an Bord merke ich, dass die Laptops wieder nicht laden. Ein kurzer und unnötiger Blick aus dem Fenster: die Sonne scheint. Das kann einfach nicht sein, es langt! Mit noch restfeuchten Augenbrauen vom Duschen stapfe ich die Leiter runter, bewaffnet mit ordentlich Grant und einem Profi-Multimeter, will ich jetzt eine Erklärung.

Noch bevor meine Füße den Boden berühren, erspähe ich im Augenwinkel exakt die Person, die ich für aussagepflichtig halte: Bruce.

„Hey there, bom dia, is there any chance the electricity is not working eventhough the sun is shining like fucking hell?“ was so viel heißt meine Güte, warum gibt’s jetzt sogar mit Sonne keinen Strom? Erst als ich bei ihm stehe, merke ich, dass ich wohl mit dem Multi rumgefuchtelt habe und als Bruce verneint und mit einem Nicken auf das Gerät andeutet, dass ich als Profi wohl wüsste wie man damit umgeht, dämmert mir, dass das schiefgeht.

Bruce braucht keinen Anlauf, um sich meiner Stimmung anzupassen und stapft mit mir zum Verteilerkasten. Er schließt auf und stellt fest, dass es ein Kurzschluss war und, dass es wohl an „mir“ liegt. Diffus wird argumentiert, dass mein Werkzeug oder meine Verkabelung schuld ist. Dann folgt Schulterzucken gekoppelt mit einem Grinsen, für welches Hyänen keine Übung brauchen. In mir schaltet das Stresslevel automatisch von Kochwasser auf Geysir (next: Vulkan). „What do you mean it´s my fault? My tools, my boat? I never had problems like this before!“

Gut, das war nicht ganz korrekt, eigentlich war es schlicht falsch aber Emotionen haben wirklich eine bemerkenswerte Kapazität, Fakten zu biegen und so stieg ich wieder an Bord, zornig aber wieder mit Strom. Bruce hatte die Sicherung wieder reingedrückt.

In den folgenden Tagen werde ich noch häufiger bei der Administration des Boatyards vorstellig, lerne viel über das seit Monaten schwelende Dauerthema Strom und bekomme Zugang zum örtlichen Widerstand. Das ist eine Gruppe engagierter Boatpeople, die mit Fachkenntnis und Excel-Tabellen dem Strom-Desaster auf den Grund gehen wollen. Nach ausufernd emotionalen Debatten kann man verraten, dass die Luft um Bruce dünn und die Beweislage drückend ist. Aber solange die Sonne scheint, ist von einem Aufstand nicht auszugehen.

Zum Ende dieser Folge sitze ich bei Sonnenuntergang an Deck und halte einen verkohlten Stromadapter in der Hand. Die Musik setzt ein: (https://www.youtube.com/watch?v=9T-3812pv94)

Nach zehrender Fehlersuche musste ich einsehen, dass weder das experimentelle Stromsetting, noch die anderen Boote an meinem Verteiler für meine Stromlosigkeit verantwortlich sind. Bruce selbst hat wasserdichte Alibis. Der Schuldige war, der nunmehr verkohlte Adapterstecker im Cockpit und dementsprechend ich der Verantwortliche, der Kapitän, der Narr.

Episode 02/Staffel 01: Der Pfeiffer

Ich sitze neben den Waschmaschinen auf einem zusammengerollten Feuerwehrschlauch und lese eines der Bücher aus der Büchertauschwand. Auf der nahen Waschmaschine liegen mein Laptop, mein Handy, eine Powerbank und ein randvoller Mehrfachstecker. Mein Digitalequipment ist leer und bekannterweise gibt es nur dann Landstrom, wenn die Sonne scheint. Das stimmt nicht ganz, weil die großen Akkus manchmal noch einen Tag oder länger ohne Sonne auskommen, aber generell stimmt das schon. Keine Sonne, kein Strom, so lautet die gängige Losung. Seit Ende November hatte man das Stromsystem komplett auf Solar umgestellt und sich danach mal eben vier Wochen in den Winterurlaub verzogen. So oder so ähnlich lautet auf jeden Fall das Narrativ im Widerstand, nur wecken auch einige durchgeschmorte Verteilerkästen Zweifel an der fachmännischen Stromnutzung und stützen Bruce. Der meint nämlich alle hier nutzen nur Elektro-Heizer und das kann ja wohl niemand auf Dauer verstromen.

Nun, ich sitze also mitten im Eingang zu den Duschen, weil draußen statt Sonne nur dicke Wolken zu sehen sind. Wenn das so weitergeht, wird Sonja wohl auch bald mal vorbeischauen müssen, denn hier im Sanitärbereich sind die einzigen „Dauersteckdosen“. Statt Sonja kommt allerdings ein E-Roller vorgefahren, also ein echter und kein kleiner Scooter. Noch bevor ich jemanden sehen konnte, konnte ich jemanden hören. Andauerndes, unvorhersehbares Pfeifen. Nicht grässlich aber auch keineswegs eingängig, irgendwie wirr und zugleich nicht ausblendbar. So, wie sich mir Freestyle-Jazz darstellt.

An mir vorbei und hinter seiner eigenen Akustik her, wandelt Sekunden später ein älterer Herr in einem lila Bademantel und sperrt übergangslos die Behindertendusche auf. „Hey Mate“ grüßt er, gefolgt von einem „you think, there is any chance of a hot shower today?“. Ich war nicht zuversichtlich und habe ihm nur viel Glück gewünscht, denn warmes Wasser gab es auch nur bei oder kurz nach Sonnenschein. Keine Sonne = kein Strom = kein Warmwasser.

Das trillernde Pfeifen wurde nur kurz von der Konversation unterbrochen, war die Duschtür zu, war der Sound wieder an und die Dusche in Betrieb. Noch bevor sich wieder Leseflow einstellen will, geht die Tür jedoch auf und zwischen mehreren Tonkaskaden schallt mir ein „well, not today…but maybe tomorrooow“ entgegen. Der Mann stapft erfolglos aber stoisch nach draußen und ich denke mir, dass auch lila Bademäntel eine gewisse Würde ausstrahlen können. Ist wohl immer eine Frage des Trägers…

Sekunden später rauscht nun der gesamte E-Roller durch die Eingangstür und direkt in die Dusche. Nach Scheppern und derbem Herumgeräume muss ich wohl sehr irritiert geschaut haben, denn mit einem verschnauften Grinsen sagt er zu mir. „i would have the same looks if i were you, but i gotta charge that thing somewhere, right?“ Was so viel heißt, wie wo soll ich denn meinen Roller sonst wohl laden, wenn nicht hier.

Sally, so stellt er sich vor, ist schon seit einigen Jahren auf dem Boatyard aber so etwas wie seit November gab´s noch nie. Er war Elektriker in UK und das Stromthema treibt ihn ebenso um, wie alle anderen. Je mehr er erzählt umso mehr habe ich das Gefühl an der Bar in einem britischen Pub zu stehen. Pointe jagt Frage jagt Pointe, und es fehlt eigentlich nur die Musik und das Bier aber wir haben ja weiße Kacheln und grelle Beleuchtung.

Ich lerne viel über den Boatyard, über Bruce, über Solaranlagenspeicherung, über die anderen Boatpeople und natürlich über den Brexit. Am Ende bin ich mir nicht mehr ganz sicher, wer jetzt der Narzist und wer der Brexiteer hier auf dem Yard ist und ob nicht doch die EU ihre Finger im Spiel hat, wenn es um meine persönliche Stromproblematik geht. What??

Ja, genau so ging es mir auch, denn das war die naturgetreuste beinahe-Erfahrung  eines Pub-abends seit fast einem Jahr und so fühl ich mich auch auf den 50 Metern Heimweg.

Den Pub-spirit muss ich wohl im Gesicht getragen haben als ich mit vollen Akkus und gutgelaunt zurück an Bord komme. „Wen hast Du jetzt wieder getroffen?“ fragt Sonja bewusst so, als ob es noch normal wäre Leute unter der Woche auf der Straße zu treffen. Beseelt aber auch irgendwie überfahren stehe ich eigentlich noch im Pub.

 „I´ve got no fucking clue“ – Ich hab´ absolut keine Ahnung.

Episode 03/Staffel 01: Wellenlager-Festival

Skeptisch sind alle, aber Paddy findet die Idee das Lager per Gegenstück und Metallstangen selbst herauszuratschen überaus interessant. Die Idee lautet, das alte Lager mit einem noch älteren Lager herauszuquetschen, so wie man das früher bei den aufmunitionierten Plastikbleistiften gemacht hat. Paddy ist Feuer und Flamme und schweißt Teile dafür, überlässt einem die Werkstatt und ratscht am Ende noch selbst mit.

Das Lager herauszubekommen ohne Einsatz von Metallsägen oder hydraulischen Abziehern ist…komplex, aber es gibt ja YouTube. Jeder hatte heutzutage jedes Problem schon einmal und mit etwas Glück hat derjenige dann noch ein Video darüber online gestellt.

Die heutige Skepsis wird repräsentiert von Pete, Andy und Sally und alle stehen wie immer bei Paddy´s Boot rum und halten ihn vom Arbeiten ab. Auf meine Nachfrage, ob jemand Wetten abschließen will, erhalte ich überlautes Schweigen als Feedback. Briten nach Sportwetten fragen: Bullseye! Aber das lass ich jetzt trotzdem mal lieber.

Kurz bevor wir den langersehnten Versuch starten, stehen wir hier schon zu sechst um Pantera herum und ich denk mir, wenn das jemand sieht…schließlich herrscht vor dem Tor strengster Lockdown. Klar, wir haben genügend Abstand und sind im Freien aber die Gesetzgebung außerhalb dieser Enklave ist derzeit sehr strikt und darüber spaßen will auch keiner mehr.

Da kommt Marc vorbei und flötet ein fröhliches „Mooooooiiiiiiiin“ in die Runde. Nach kurzem Staunen, reiht er sich tendenziell eher zu den Skeptikern ein und ich frag mich, was ein kleines Fass Bier hier jetzt wohl auslösen würde. Zünftig ist es ja schon.

Wir ratschen los und nach wenigen Sekunden wird klar: sie bewegt sich doch! Das Wellenlager verlässt nach über 20 Jahren langsam die Welle und die Jury ist begeistert. Es wird gejubelt und irgendjemand klopft zügellos einem anderem auf die Schulter, Emotionen halten Hygienekonzepten einfach nicht stand. Es ist ein Happening, zwar kein Rockfestival oder Silvesterparty aber immerhin ein Happening.

Frohmut macht sich breit und nach fast-beinahe-Freudentränen löst sich die Versammlung langsam auf, Marc stellt die obligatorische Frage, ob denn noch warmes Wasser für die Duschen da sei und Sally brettert übereifrig mit dem E-Scooter los – irgendwas mit Tee und zu spät. Gerade als wir dabei sind das Werkzeug zu verräumen, sehe ich im Hintergrund wie Paddy pantomimisch Andy erklärt, dass er sich nicht entscheiden kann. Er hüpft zwischen seinem Boot und den Duschen hin und her. Schnell noch (1) heiß duschen oder schnell noch (2) was schweißen? 1 oder 2, letzte Chance vorbei! Ob Du wirklich richtig stehst, siehst Du…wenn der Strom/das heiße Wasser ausgeht.

Aus den Untiefen des Verstands:

Es quietscht kurz neben uns, Joachim hat sein Sportbike zum Stillstand gebracht und erkundigt sich, was denn hier wieder los sei. Uff, naja wir haben endlich mit dem Lager angefangen, ziemlich krass, aber ich glaub es wird. Gar ned schlecht, meint Joachim, und lässt unzweifelhaft für Kennerohren das Mittelfränkisch durchblitzen. Er würde gern noch heiß duschen, schließlich war er ja wieder seine Stammstrecke gefahren (40km) und der Pfeiffer würde sicherlich wieder alles wegduschen. „Oh shit, ich muss ja noch was sägen!“ und dann war er wieder weg. Tja, der Stromrhythmus überlagert alles und macht uns zu Mittagsduschenden und Stechuhr-Feierabendkollegen.

Die Zombie-Apokalypse ist also auch vor diesen Toren ausgeblieben, aber die Welt hat sich verändert. Kinos, Konzerte und irgendwelche Feste, irgendwas mit Menschen, man kann es sich schwer noch vorstellen, dass das vor gut einem Jahr noch alles normal war. In 2021 ist es exzeptionell und darum ist es allein schon so besonders diese kleine Gemeinschaft real zu erleben. Bruce Boatyard mit all seinen Charakteren und Anekdoten ist wie eine Enklave, die nicht Zombies von Nicht-Zombies trennt, sondern die Gegenwart von der Vergangenheit.

Gerade als ich die Leiter hochsteigen möchte, schält sich Pete aus dem Off und zeigt sich mit Blick auf das Wellenlager sichtlich überrascht. „Would´nt have thought that this works!“ kann man sicher als Anerkennung durchgehen lassen. Irgendjemand hat irgendwann gesagt, Pete wäre ein Brexiteer, was für mich jetzt eher dafür eine wichtige Info ist, um hitzige Debatten zu vermeiden. Natürlich müsste ich das erstmal verifizieren aber ich bin zu müde. Macht außerdem nichts, Pete schafft es ganz alleine verbal in Richtung UK zu wandern und als er in einem Nebensatz sagt, dass er eigentlich aus Wales stammt…wird es unwirklich.

Ich erwähne eher beiläufig, dass ich als Teenager öfters in Wales war und er fragt mich, ob ich da und dort war und ich nicke unmerklich und sage mehr zu mir selbst einzelne Orte die mir einfallen auf walisisch…und plötzlich sagen wir wie ferngesteuert absolut simultan ein Wort auf:

„Llanfairpwll­gwyngyllgogery­chwyrndrobwll­llantysilio­gogogoch“

Der längste Ortsname Europas kommt aus Wales und als ich mit meiner Tante damals dort war, habe ich das schier unzählige Male geübt, bis es unauslöschlich abrufbar wurde. Bis jetzt, ein viertel Jahrhundert später. Ich habe so vieles wieder vergessen, was ich je gelernt habe. Die Mitternachtsformel, den Citratzyklus und manchmal muss ich auch über Steuerbord und Backbord kurz nachdenken, aber wie man diesen Ort ausspricht ist sofort da.

Pete und ich sagen es gleichzeitig und noch auf halber Wortstrecke, wir mir irgendwie kalt oder schwindelig oder ich weiß es nicht genau. Es ist so unwirklich, dass ich dieses Dejavu-Gefühl bekomme, nur potenziert. Ist das der Moment, für den ich das vor Jahren gelernt habe, und wenn ja, warum? Als die etwa 6 Sekunden Session vorbei ist, schauen wir uns kurz ungläubig an, dann schau ich hoch und sehe, dass Sonja mitgehört hat.

Wortlos und genauso ungläubig wie wir hier unten schaut sie mich an und dann Pete. Jetzt ist das unser gemeinsamer unglaublicher und irgendwie unheimlicher Moment. Was sollen wir damit machen? Wozu das Ganze?

Wer weiß das schon, wer soll solche Fragen beantworten? Vielleicht war das verjährte Üben nur für diesen Moment und nur für eine Sache gut: für die Hoffnung. Auch Hoffnung muss manchmal neugeboren werden, selbst wenn sie zuletzt stirbt, und an diesem Tag weiß ich wieder, dass alles passieren kann auf dieser Welt, selbst mit Corona und im Lockdown.

Der Boatyard-Blues ist also nicht unbedingt einer, der von der Traurigkeit erzählt, wochenlang hinter Mauern auf einem Segelboot und auf dem Trockenen zu liegen. Dieser Blues erzählt eher von der Traurigkeit einer Enklave aus der Vergangenheit, die die Zustände vor den Mauern vergessen lässt und Verlorenes konserviert, denn verloren haben wir alle etwas.

Dennoch wird Blues oft verkannt, denn neben Trauer und Melancholie spendet er zwischen den Zeilen oft Hoffnung, darauf dass es immer irgendwie weitergeht, notfalls auf walisisch und notfalls auch ohne Strom.

Bei Interesse: morgendliches Ambiente auf dem Yard

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